Die Psychologie der Nähe: Bindungstheorie, Narzissmus und wie wir uns schützen können
- sattleringrid
- 20. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Die Bindungstheorie nimmt eine Schlüsselstellung in der Entwicklungspsychologie ein und beantwortet fundamentale Fragen zu Beziehungsgestaltung, psychischer Entwicklung und emotionaler Sicherheit. Ein genauer Blick auf die Theorie, ihre Entwicklung, die vielfältigen Bindungsmuster sowie die weitreichenden Effekte früher Bindungserfahrungen zeigt, wie tiefgreifend und lebensbestimmend dieses Konzept für unser gesamtes Leben ist.
Ursprung und Entwicklung der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie wurde maßgeblich von John Bowlby entwickelt und in enger Kooperation mit der Psychologin Mary Ainsworth empirisch ausdifferenziert. Bowlby griff auf evolutionsbiologische Theorien von Charles Darwin zurück und verband sie mit klinischer Forschung. Sein Ausgangspunkt war, dass das Bedürfnis nach Sicherheit und emotionaler Nähe kein erlerntes, sondern angeborenes System ist, das das Überleben des Menschen sichert. Insbesondere bei Stress, Krankheit, Trennung oder Gefahr wird das „Bindungssystem“ aktiviert. Kinder suchen dann instinktiv die Nähe ihrer Bindungsperson.
Mary Ainsworth erforschte das Verhalten von Müttern und Kindern intensiv – vor allem mit ihrem berühmten „Fremde-Situations-Test“, bei dem das Verhalten von Kindern bei Trennung und Wiederkehr der Bezugsperson beobachtet wurde. Durch ihre Arbeiten konnten Bindungsqualitäten erstmals systematisch beschrieben und empirisch überprüft werden.
Bindungsverhalten: Definition und Mechanismen
Das Bindungssystem dient dazu, die Nähe zu einer Schutzperson herzustellen und aufrechtzuerhalten. Das geschieht über angeborene Verhaltensweisen: Schreien, Festklammern, Nachlaufen, Weinen und Protest, sobald die Bindungsperson nicht verfügbar ist oder die Umwelt als bedrohlich erlebt wird. Das Ziel ist Schutz, Sicherheit und emotionale Versorgung sicherzustellen. Erst bei erfüllter Nähe- und Schutzfunktion kann sich das Explorationssystem aktivieren – das Kind wird neugierig, entdeckt die Welt und lernt eigenständig.
Bindung ist jedoch kein instinktives Triebverhalten, sondern ein zielgerichtetes, anpassungsfähiges System, das auf die Reaktionen der Bezugsperson flexibel reagiert. Mehrfache Bindungen sind möglich, deren Hierarchie sich daran ausrichtet, wer am zuverlässigsten für Trost und Sicherheit sorgt.
Die vier klassischen Bindungsmuster
Ainsworth und weitere Forscherinnen und Forscher identifizierten vier grundlegende Bindungsstile (Bindungstypen), die durch wiederholte Erfahrungen mit der Bezugsperson entstehen:
Sicher gebunden (Bindungstyp B):
Bezugspersonen reagieren sensibel, verlässlich und empathisch auf die Bedürfnissignale des Kindes.
Kinder zeigen Vertrauen, emotionale Offenheit, genießen Nähe, können bei Trennung Stress kommunizieren und sich nach Rückkehr schnell beruhigen.
Erwachsene gehen stabile, erfüllende Beziehungen mit guter Balance aus Nähe und Autonomie ein.
Unsicher-vermeidend (Bindungstyp A):
Bezugspersonen sind emotional distanziert, zurückweisend oder ablehnend, gehen wenig auf Gefühle ein.
Kinder verbergen ihren Stress, zeigen scheinbar Gleichgültigkeit und wenden sich bei Trennung oder Rückkehr kaum ihrer Bindungsperson zu.
Erwachsene zeigen Überangepasstheit, Angst vor Abhängigkeit, Schwierigkeiten, sich emotional einzulassen.
Unsicher-ambivalent (Bindungstyp C):
Bezugspersonen verhalten sich inkonsistent, sind manchmal verfügbar, manchmal ablehnend.
Kinder zeigen starke Verunsicherung, klammerndes Verhalten und intensive Angst bei Trennung, lassen sich schwer beruhigen.
Erwachsene erleben Beziehungen als unsicher, suchen ständig Bestätigung, haben ausgeprägte Verlustangst.
Desorganisiert (Bindungstyp D):
Häufige Ursachen: Missbrauch, Vernachlässigung, traumatische Kindheitserfahrungen, Bindungspersonen als Quelle von Angst.
Kinder zeigen widersprüchliches, teils außerordentliches Verhalten: Erstarren, bizarre Bewegungsmuster, panische Flucht oder Annäherung.
Erwachsene ringen oft mit Bindungs- und Vertrauensproblemen, fühlen sich Beziehungen ausgeliefert oder erleben wiederkehrende toxische Bindungsdynamiken.
„Das Kind erlebt schließlich die Welt ständig als einen bedrohlichen Ort, dessen Schrecken sich in der Bezugsperson widerspiegelt.“
Warum und wie entstehen Bindungsmuster?
Bindungsmuster entstehen als Anpassung an wiederkehrende Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensjahren. Kinder entwickeln unbewusst Strategien, um sich Schutz, Nähe und Aufmerksamkeit zu sichern – abhängig davon, wie vorhersehbar und verlässlich die Bezugspersonen reagieren.
Sichere Bindung: entsteht durch feinfühligen, präsenten Umgang mit Bedürfnissen.
Unsichere Bindung: entsteht durch Inkonsistenzen, Zurückweisung oder fehlende Empathie der Bezugsperson.
Desorganisierte Bindung: entsteht häufig durch Traumatisierung, Angstübertragung (z.B. durch psychisch kranke Eltern) oder Missbrauch – das Kind befindet sich in einer unlösbaren Double-Bind-Situation.
Nachhaltige Auswirkungen auf Erwachsenenalter und Beziehungen
Frühe Bindungserfahrungen formen das sogenannte „innere Arbeitsmodell“ für Beziehungen: Wie schätze ich andere ein? Darf ich vertrauen? Bin ich (ver-)liebenswert? Wie gehe ich mit Konflikten und Trennungen um?
Bindungstypen beeinflussen im späteren Leben:
die Fähigkeit, emotionale Nähe zuzulassen,
Selbstbewusstsein und Umgang mit Emotionen,
Konflikt- und Bindungsfähigkeit,
Partnerwahl und Tendenz, bestimmte Beziehungsdynamiken zu wiederholen.
Unsicher oder desorganisiert gebundene Erwachsene neigen zu emotional anstrengenden, oft destruktiven Musterbeziehungen – geprägt von Angst, Überanpassung, Abhängigkeit oder der Flucht vor echter Nähe.
Bindungsmuster, toxische Beziehungen und Narzissmus
Menschen mit unsicherem Bindungsstil – und besonders mit Bindungstyp D (desorganisiert) – sind für toxische Beziehungen oder Narzissten besonders verwundbar. Gründe dafür:
Sie suchen oft Bestätigung im Außen, haben Angst vor dem Alleinsein und nehmen Grenzüberschreitungen häufiger hin.
„Gaslighting“, Abwertung und emotionale Manipulation verstärken das kindliche Gefühl von Unsicherheit, das bereits vertraut ist.
Wiederkehrende Enttäuschungen, On-Off-Dynamiken und emotionale Instabilität werten den eigenen Selbstwert weiter ab.
Narzisstische Partner bieten scheinbar zunächst emotionale Sicherheit, enttäuschen im Verlauf aber durch ausbeuterisches, gefühlloses oder missbräuchliches Verhalten, was die alten Bindungswunden reaktiviert.
Was sagt die Wissenschaft? Wichtige Studien und Erkenntnisse
Ainsworths „Fremde-Situations-Test“ (1978) ist bis heute der Goldstandard zur Identifikation früher Bindungsqualitäten.
Mary Main untersuchte die Transmission des desorganisierten Bindungsstils durch generationsübergreifende Traumatisierung.
Längsschnittstudien zeigen: Bindungstypen im Kindesalter korrelieren hoch signifikant mit Beziehungszufriedenheit, psychischer Gesundheit und Stressbewältigung im Erwachsenenalter.
Studien zu Narzissmus und Beziehungen zeigen: Menschen mit unsicherem oder desorganisiertem Bindungsstil landen häufiger in narzisstischen oder toxischen Partnerschaften, bzw. können diese schwieriger beenden.
Was kann man tun, um Bindungsmuster zu erkennen, zu verändern und sich zu schützen?
Selbstreflexion: Das Erkennen des eigenen Bindungstyps ist der erste Schritt. Das geht z.B. durch Selbstanalyse, Gespräche mit vertrauten Menschen, Tools und psychologisch fundierte Fragebögen.
Psychotherapie: Besonders hilfreich sind bindungsbasierte Therapieverfahren wie Schematherapie, Emotionsfokussierte Therapie oder Traumatherapie. Hier werden alte Muster bewusst gemacht und neue Beziehungserfahrungen ermöglicht. Durch „corrective emotional experiences“ können alte innere Arbeitsmodelle schrittweise umgelernt werden.
Beispiele für Veränderung:
Jemand mit ausgeprägter Angst vor Verletzlichkeit und Nähe übt im geschützten Rahmen einer Therapie, Bedürfnisse zu äußern und gesunde emotionale Grenzen zu setzen.
Menschen mit desorganisiertem Stil lernen, die eigenen Gefühle als Signale zu verstehen, Trauma zu verarbeiten und Vertrauensbeziehungen aktiv aufzubauen.
Ein ambivalent gebundener Mensch hinterfragt im Alltag, warum er emotional klammert, und übt, sich auch unabhängig vom Partner stabil zu fühlen.
Schutzstrategien gegen toxische Beziehungen
Achtsamkeit im Umgang mit eigenen Alarmsignalen (z.B. Unwohlsein, dauerhafte Selbstzweifel, Isolation).
Pflegen stabiler, authentischer Beziehungen außerhalb der Partnerschaft.
Ausbau des Selbstbewusstseins und gezieltes Training von Selbstfürsorge (z.B. Journaling, Meditation, Selbstmitgefühl).
Konsequent Grenzen setzen und lernen, „nein“ zu sagen, ohne Schuldgefühle.
„Man kommt nicht mit einem bestimmten Bindungstyp auf die Welt, sondern entwickelt ihn – und kann ihn auch verändern.“
Bindungsmuster bestimmen unser Beziehungsglück weit mehr, als uns oft bewusst ist. Das Bewusstwerden darüber ist kein Nachteil, sondern macht Veränderung überhaupt erst möglich. Erfüllte, gesunde Beziehungen sind auch für Menschen mit schwierigen Bindungserfahrungen realistisch – vorausgesetzt, sie setzen sich aktiv mit ihrer Geschichte auseinander, suchen Unterstützung und lassen neue, heilsame Erfahrungen zu.
weiterführende Literatur:
John Bowlby – Er gilt als Begründer der Bindungstheorie. Seine wichtigsten Buchwerke sind:
Attachment (1969)
Separation: Anxiety and Anger (1973)
Loss: Sadness and Depression (1980)
Diese Bücher formulieren die theoretischen Grundlagen der Bindungstheorie auf Basis klinischer Beobachtungen und ethologischer Ansätze.
Mary Ainsworth – Sie entwickelte mit dem „Fremde-Situations-Test“ (Strange Situation, 1970er Jahre) das erste empirische Verfahren zur Bestimmung von Bindungstypen. Wichtige Arbeiten:
Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of Attachment: A Psychological Study of the Strange Situation.
Dieses Buch beschreibt die Bindungsmuster sicher, vermeidend, ambivalent und später auch desorganisiert.
Mary Main und Judith Solomon – Sie erweiterten den Fremde-Situations-Test und beschrieben den Bindungstyp „desorganisierte Bindung“:
Main, M., & Solomon, J. (1986). Discovery of a new, insecure-disorganized/disoriented attachment pattern. In T. B. Brazelton & M. Yogman (Eds.), Affective development in infancy (pp. 95–124).
Cindy Hazan und Phillip Shaver – Übertrugen die Bindungstheorie auf das Erwachsenenalter und romantische Beziehungen:
Hazan, C., & Shaver, P. (1987). Romantic love conceptualized as an attachment process. Journal of Personality and Social Psychology, 52(3), 511–524.
Weitere wichtige Bücher zur Bindung und Bindungsqualität:
Bretherton, I. (1992). The origins of attachment theory: John Bowlby and Mary Ainsworth. Developmental Psychology, 28(5), 759–775.
Bowlby, J., Ainsworth, M. D. S., Main, M., & Solomon, J. (Eds.). (1991). Attachment in the Preschool Years: Theory, Research, and Intervention.





