Ist ein braves Kind nur gut erzogen oder kann eine Überlebensstrategie dahinterstecken?
- sattleringrid
- 15. Aug.
- 5 Min. Lesezeit
Das Bild vom „braven Kind“ ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Oft wird Gehorsam und Angepasstheit als Zeichen guter Erziehung gelobt. Doch psychologische und neurobiologische Erkenntnisse zeigen: Hinter "brav sein" steckt nicht selten viel mehr als bloßer Gehorsam. Es kann eine Überlebensstrategie sein, die das Nervensystem nachhaltig beeinflusst.
"Brav sein" als Überlebensstrategie
Kinder brauchen Beziehung und Bindung, um zu überleben – emotional und körperlich. Wird ihnen jedoch suggeriert, dass sie nur dann liebenswert sind, wenn sie brav, angepasst und unauffällig sind, stimmen sie den Bedürfnissen der Erwachsenen oft zu und verleugnen ihre eigenen. Dies ist keine freie Entscheidung, sondern eine evolutionär gewachsene Strategie, Liebesentzug zu vermeiden. Das Kind lernt früh: nur wenn ich brav bin, bleiben meine Eltern mir wohlgesonnen und ich bleibe sicher.
Dieses strategische Verhalten kann dazu führen, dass ein Kind eine dauerhafte Fassade aufbaut und seine wahren Gefühle und Bedürfnisse nicht mehr wahrnimmt. "Brav sein" wird zum Schutzschild - äußerlich angepasst, innerlich im Dauerstress.
Auswirkung auf das Nervensystem: Ein Exkurs in die Polyvagal-Theorie
Der Neurowissenschaftler Stephen Porges entwickelte die Polyvagal-Theorie, die erklärt, wie das autonome Nervensystem auf Stress und Sozialkontakte reagiert. Zentral ist der „Polyvagal-Kollaps“, auch als Totstellreflex bekannt: Neben „Kampf oder Flucht“ (sympathisches Nervensystem) gibt es einen weiteren evolutionären Überlebensweg. Die Immobilisation, vermittelt über den „dorsalen Ast“ des Vagusnervs. Fühlt sich ein Kind dauerhaft bedroht oder hilflos, kann es in diesen Zustand von Erstarrung und innerem Rückzug („Shutdown“) geraten.
In diesem Zustand fährt das Nervensystem herunter. Der Herzschlag sinkt, der Körper wird ruhig, Stresshormone können aber trotzdem erhöht bleiben. Nach außen erscheint das Kind ruhig und angepasst, jedoch innerlich herrscht maximale Alarmbereitschaft oder Dissoziation.
Dissoziative Spaltung
Dissoziation ist ein Schutzmechanismus des Gehirns bei überwältigendem Stress. Das Bewusstsein spaltet sich vom aktuellen Erleben ab, um Schmerzen oder Angst nicht fühlen zu müssen. Bei Kindern kann das so aussehen, dass sie zwar brav und ruhig wirken, innerlich aber „weggetreten“ sind – abgetrennt von ihren Emotionen und Bedürfnissen. Übermäßige Anpassung und Dissoziation können so zur Normalität werden und prägen oft das weitere Leben.
Neuroplastische Umprogrammierung
Neuroplastizität beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, sich durch Erfahrungen oder gezielte therapeutische Interventionen neu zu verschalten. Gerade für Kinder, die früh gelernt haben, sich anzupassen und ihre Gefühle dauerhaft zu unterdrücken, ist es möglich, durch neue, korrigierende Erfahrungen – etwa sichere Beziehungen und gezielte Therapie – das Nervensystem wieder „umzuprogrammieren“. Das Ziel: Eigene Bedürfnisse wahrnehmen, Selbstausdruck und emotionale Balance zu finden.
Exkurs: Ainsworths „Fremde Situation“ – Was zeigen die braven Kinder wirklich?
Mary Ainsworth untersuchte in ihrer berühmten „Fremde-Situation“-Studie das Bindungsverhalten von Kleinkindern. Die Kinder wurden mit ihrer Mutter in einen Raum gebracht. Nachdem sie die fremde Situation einige Zeit erlebt hatten, verließ die Mutter den Raum und kam später zurück. Das Verhalten der Kinder wurde beobachtet, insbesondere wie sie trauerten, sich beruhigten oder angepasst verhielten.
Ein beachtlicher Anteil der Kinder, vor allem jene mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil, zeigten wenig bis keine sichtbare Reaktion beim Verlassen der Mutter. Sie blieben „brav“ und ruhig. Doch Messungen des Stresshormons Cortisol und der Herzfrequenz zeigte, dass gerade diese scheinbar ruhigen Kinder oft stark erhöhte Cortisol- und Adrenalinwerte hatten und eine erhöhte Herzfrequenz, vergleichbar oder manchmal sogar höher als die offen weinenden, klammernden Kinder. Die äußere „Bravheit“ war also eine Stressmaske.
Ainsworth und ihre Kollegin Bell sprachen in diesem Zusammenhang von „einer Maske für Distress“. Das brave Kind „spielt“ angepasstes Verhalten, überspielt seinen Stress und scheint ruhig. Tatsächlich aber ist es innerlich hochalarmiert. Die Anpassung ist eine Form von Eigenregulation, um Zurückweisung, Liebesentzug oder noch schlimmeres zu verhindern. Es ist eine Tarnung und keine echte Gelassenheit.
"Brav sein" ist oft mehr ein Zeichen von Anpassung als gesunder Entwicklung. Es kann eine Überlebensstrategie sein, die tiefe Spuren im Nervensystem hinterlassen kann. Nur mit Verständnis, emotionaler Sicherheit und bewusster Zuwendung kann es gelingen, Kindern (und Erwachsenen) wieder Zugang zu ihrer eigenen Lebendigkeit und Selbstregulation zu ermöglichen.
Erwachsene, die als Kinder stets „brav“ und angepasst waren, zeigen häufig Spuren dieser Überlebensstrategie in ihrem Nervensystem und Erleben. Die kindliche Anpassung prägt dabei nicht nur das Verhalten, sondern hinterlässt teils tiefe Spuren in der physiologischen Stressverarbeitung und Selbstwahrnehmung.
Auswirkungen auf das Nervensystem im Erwachsenenalter
Chronische Anspannung: Das Nervensystem bleibt oft in einem Zustand erhöhter Alarmbereitschaft. Die biografisch erworbene „Bravheit“ wird zur dauerhaften Selbstregulationsform, die dem Körper signalisiert: „Nur wenn ich mich anpasse, bin ich sicher.“ Dies führt häufig zu Hypervigilanz.
Hypervigilanz: Andauernde, übertriebene Wachsamkeit und das ständige Gefühl, Gefahr drohe. Das Nervensystem befindet sich in erhöhter Alarmphase.
Symptome für Hypervigilanz sind innere Unruhe, Angespanntheit, Reizbarkeit, Schlafprobleme und soziale Überforderung.
Fawn Response: Die sogenannte „Fawn Response“ (Bambi-Reflex) ist die übermäßige Anpassung an andere als unbewusste Strategie, um Ablehnung oder Gefahr zu vermeiden. Menschen mit dieser Reaktion vernachlässigen systematisch ihre eigenen Bedürfnisse, um akzeptiert und nicht verletzt zu werden. Dies ist eine tiefe, automatisierte Reaktion des Nervensystems und kann zu Schwierigkeiten in Beziehungen und mangelnder Selbstwahrnehmung führen.
Die Überlebensstrategie, sich (übermäßig) an die Bedürfnisse anderer anzupassen („People Pleasing“), um Harmonie und Sicherheit zu sichern, selbst wenn eigene Grenzen übergangen werden. Der eigene Selbstwert hängt dabei davon ab, wie „brav“ oder nützlich man für andere ist.
Alexithymie: Viele „brave Kinder“ verlieren durch die ständige emotionale Anpassung den Zugang zu ihren eigenen Gefühlen. Alexithymie beschreibt die Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, zu benennen oder auszudrücken. Dies ist oft die Folge davon, dass Gefühle als störend oder gefährlich erlebt und deshalb abgespalten wurden.
Häufig fühlen sich Betroffene innerlich leer oder wissen nicht, wie sie sich fühlen, weil sie ihre Emotionen jahrelang verdrängen mussten.
Der Weg zur Heilung – Wie das Nervensystem regulieren und umprogrammieren?
Die gute Nachricht: Durch gezielte Selbstregulation und neue Beziehungserfahrungen kann das Nervensystem lernen, Sicherheit auch ohne Anpassungsleistung zu empfinden. Einige konkrete Ansätze und Übungen sind:
Polyvagale Übungen: z.B. sanftes Summen, Brummen oder Singen, absichtliches langsames (Vagus-)Atmen, leichtes Schaukeln. All das kann den Vagusnerv aktivieren und das autonome Nervensystem beruhigen.
Somatische Achtsamkeit: Körperwahrnehmungsübungen, z.B. Body-Scan, „Bodyscan mit Fokus auf Sicherheitsempfindungen“, bewusstes Spüren von Kontakt (z.B. mit den Füßen auf dem Boden). Kleine Einheiten und regelmäßige Wiederholung sind oft hilfreich.
Emotionale Wahrnehmungsübungen: Fragen wie „Wie fühle ich mich gerade?“ mit einer Auswahl von Gefühlen; Tagebuchschreiben über kleine Alltagsgefühle (auch wenn sie schwer greifbar sind), um Alexithymie zu überwinden.
Beziehungsarbeit in Therapie: In einer sicheren und akzeptierenden therapeutischen Beziehung können alte Muster langsam hinterfragt und neue Erfahrungen gemacht werden.
Grenzen kennenlernen und setzen: Kleine Übungen im Alltag, z.B. eine höfliche Bitte ablehnen oder einen eigenen Wunsch äußern, und danach bewusst innehalten: "Wie fühlt sich das im Körper an?"
Selbstmitgefühl entwickeln: Mitgefühl für die eigene Verletzlichkeit, für das brave innere Kind, z.B. durch Meditationen nach Kristin Neff („Selbstmitgefühl für das innere Kind“).
Durch diese achtsamen Interventionen kann das Nervensystem lernen, dass Sicherheit und Bindung auch ohne Überanpassung möglich sind und aus dem „braven“ Erwachsenen kann ein lebendiges, eigenständiges Selbst werden.





