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Kontrolle durch Unverbindlichkeit: Die unterschätzte Macht des Schwebezustands

  • sattleringrid
  • 26. Aug.
  • 4 Min. Lesezeit

Wer kennt es nicht: Eine zunächst leidenschaftliche, inspirierende Begegnung wird plötzlich zur Geduldsprobe – das Gegenüber wird flüchtig, verspricht viel, aber hält wenig, und jede Frage nach verbindlichen Plänen verwandelt sich in ein diffuses „mal sehen“. Die ständige Unsicherheit, ob es wirklich mehr werden kann, nagt an den eigenen Selbstwertzweifeln und aktiviert unbewusste Wunden aus der Vergangenheit.

Gerade in Beziehungen, in denen eine Trennung (noch) keine Option ist, bleibt ein großes Fragezeichen stehen: Muss ich auf Dauer mit dieser Planlosigkeit leben? Oder liegt in der Unverbindlichkeit eine versteckte Form der Kontrolle, hinter der tieferliegende Dynamiken stehen?


Unverbindlichkeit als Bindungsmuster: Die Psychologie dahinter


Auf den ersten Blick mag es scheinen, als ob alle Menschen Klarheit bevorzugen – immerhin bedeutet Unverbindlichkeit Stress, Unruhe und Unsicherheit. Doch wissenschaftliche Studien im Bereich der Bindungsforschung zeigen: Es gibt Menschen, die dieses Schweben nicht nur tolerieren, sondern lustvoll inszenieren – vor allem Bindungstypen mit „vermeidendem“ (englisch: dismissive avoidant) Grundmuster.

Bei ihnen wurden in frühen Beziehungen zu Eltern oder Bezugspersonen Distanz, geringe Fürsorge oder emotionale Unerreichbarkeit erlebt. Als Erwachsene assoziieren sie daher Nähe und Verbindlichkeit oft unbewusst mit dem drohenden Verlust von Kontrolle oder Freiheit. Unverbindlichkeit hält ihnen selbst alle Optionen offen und schützt, so paradox es klingt, vor dem Schmerz, sich vielleicht irgendwann verlassen oder gefangen zu fühlen.

Ein besonders manipulativer Zug tritt bei Menschen mit ausgeprägten narzisstischen oder verdeckt-aggressiven Anteilen auf. Unverbindlichkeit wird zur Machtausübung. Der Partner bleibt absichtlich in Vorläufigkeit gefangen. Mal liebevoll, mal distanziert, wird so das emotionale Gleichgewicht des Gegenübers ins Wanken gebracht, bis dieser sich nach jedem „Hoffnungskrümel“ verzehrt – eine subtile Form psychischer Kontrolle, wie zahlreiche Therapieberichte und aktuelle Einzelstudien belegen.


Wissenschaftliche Erkenntnisse und Bindungstheorie


Bindungspsychologen wie John Bowlby, Mary Ainsworth oder auch moderne Ansätze von Grossmann & Grossmann belegen den prägenden Einfluss früher Beziehungserfahrungen auf spätere Beziehungsstile. Studien zeigen, dass Erwachsene mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster in Stress- und Konfliktsituationen Nähe abwehren, Rückzug suchen und sich auf eigene Autonomie und Selbstgenügsamkeit zurückziehen: Sie vermeiden verbindliche Gesten und geben Entscheidungen nicht ab.

In empirischen Untersuchungen – etwa mit der „Fremde-Situations-Testung“ oder durch die Bindungsdimensionen nach Parker et al. – ließ sich belegen, dass Menschen, die als Kind wenig Fürsorge und viel Kontrolle oder Gleichgültigkeit erlebt haben, später in Beziehungen häufig Kontrolle bevorzugen und schnelle Festlegungen als Bedrohung erleben.

Außerdem unterstreicht die Forschung: Macht und Unverbindlichkeit sind eng verknüpft. Studien zu „personal power“ und Narzissmus zeigen, dass die Angst vor Kontrollverlust oder echten Gefühlen dazu führt, dass Nähe aktiv abgewehrt und Verantwortung vermieden wird – selbst, wenn es auf Kosten des Partners geschieht. Langfristig profitieren solche Menschen jedoch nicht. Laut psychologischer Forschung (z. B. Baumeister & Vohs, 2007) werden diese „Machtspiele“ sozial geahndet und führen zu Isolation und unglücklichen Beziehungen.


Die Praxis: Wie Unverbindlichkeit zur Beziehungsfalle wird


Für Betroffene fühlt sich diese Konstellation an wie ein endloser Marathon auf unsicherem Boden. Jeder Versuch, Verlässlichkeit einzufordern, wird abgeblockt: Pläne werden relativiert, Fragen nach der Zukunft als Druck oder Nörgelei umgedeutet. Viele Partner:innen erleben ein Wechselbad aus Hoffnung („vielleicht liebt er/sie mich ja doch“) und Enttäuschung.

Insbesondere in toxischen Dynamiken kann das Wechselspiel von Annäherung und Rückzug missbräuchliche Züge annehmen. Wer in der Schwebe gehalten wird, wird mit der Zeit immer abhängiger, unsicherer – bis nur noch ein Schatten von Selbstvertrauen übrigbleibt. Die Forschung spricht hier von einem Teufelskreis aus intermittierender Verstärkung und Belohnung, die Suchtmechanismen im Gehirn aktiviert und emotionale Abhängigkeiten fördert.


Ursachen für unverbindliches Verhalten im Alltag


Neben destruktiven Beziehungsmustern spielen auch gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle: Laut einer Publikation der Universität Graz zu modernen Liebesstilen erleben immer mehr Menschen gerade in der digitalen Welt (Dating Apps, Social Media) Unverbindlichkeit als Normalzustand. Dies spiegelt sich auch in Studien wider, die zeigen: Wer Bindungsprobleme, Stress oder negative Beziehungserfahrungen gemacht hat, ist besonders anfällig für kurzlebige Bekanntschaften, Ghosting oder bewusst vage Verhaltensweisen (Aretz et al., 2017).

Typische Motive aus Forschung und Praxis:

  • Angst, durch Festlegung Alternativen zu verlieren

  • Zweifel an der eigenen Liebesfähigkeit oder Selbstwertgefühl

  • Hoffnung, unangenehmen Konsequenzen zu entgehen (z. B. Konflikte oder Verantwortung)

  • Machtmotiv bei narzisstischer Persönlichkeitsstruktur

  • Mangel an emotionaler Reflexionsfähigkeit oder Beziehungsfähigkeit


Was hilft: Strategien gegen die Macht der Ungewissheit

Für Betroffene


  • Reflexion: Erkenne das Muster! Wissenschaftliche Literatur betont, wie wichtig Selbsterkenntnis und die Auseinandersetzung mit den eigenen auftretenden Gefühlen und Bindungswünschen sind – auch mit Unterstützung von Beratung oder Therapie.

  • Gespräch und Konfrontation: Formuliere offen, wie sehr dich die Unklarheit belastet und was du wirklich möchtest.

  • Grenzen setzen: Halte dich nicht an Versprechungen auf. Wer Signale der Unverbindlichkeit wiederholt setzt und Ausflüchte benutzt, ist meist nicht bereit für echte Nähe.

  • Entscheidung: Wenn Gespräche zu keiner Veränderung führen und du spürst, dass dein Selbstwert leidet, kann das Ende der Beziehung der wichtigste Schritt zurück zu Selbstachtung und Heilung sein.


Für unverbindliche Bindungstypen

  • Selbstanalyse: Woher kommt die Angst vor Verbindlichkeit? Was bedeuten Kontrolle, Freiheit und Verantwortung für dich?

  • Mut zur Nähe: Studien zeigen, dass Durchbrechen von Vermeidung und die bewusste Hinwendung zu Emotionen langfristig zu erfüllenderen Beziehungen führen kann (Grossmann & Grossmann, 2017).

  • Therapie oder Coaching: Gerade Menschen mit alten Verletzungen profitieren von professioneller Unterstützung, um sichere Bindungsmuster zu erlernen.


Langfristige Perspektive – mehr als nur „mal sehen“


Unverbindlichkeit als dauerhafte Beziehungshaltung schützt niemanden. Was zunächst als Komfortzone erscheint, offenbart am Ende tiefe Leere und Beziehungsarmut. Wissenschaft und Praxis sind sich einig: Wirkliche Freiheit und lebendige Partnerschaften entstehen durch Mut, Verantwortungsbereitschaft und die Bereitschaft zur echten emotionalen Offenheit – auch wenn es weh tun kann.

Wer nur im „Vielleicht“ bleibt, gibt Kontrolle weiter – und verliert letztlich das Wertvollste: die Fähigkeit zu echter Nähe, Liebe und persönlicher Weiterentwicklung.


ree

 
 
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